Der Tagesspiegel, Februar 2009
In den Kulturhäusern der DDR tanzten, dichteten, flirteten die Arbeiter und Bauern. Dann kam die Wende, man hatte nun anderes zu tun, die Häuser schlossen, bis auf wenige. Über die Leerstellen einer Form, die keinen Inhalt mehr hat.
Vor ein paar Monaten hatte Hartwig Matthäs es satt, dass nichts passierte. Er lief von der Stadtverordnetensitzung direkt zu seinem Nachbarn, der eine Werbefirma betreibt. Der Mann spendierte zehn dekorative Buchstaben: drei u, ein K, ein l, ein t, ein r, ein h, ein a und ein s. Sie zogen mit Leiter und Werkzeug los und schufen Tatsachen.
Dann prangten die Buchstaben an der Fassade Nummer 19 in der Großstraße: „Kulturhaus“ stand da. Die meisten Stadtverordneten waren für „Deutsches Haus“, weil so hier einst der Landgasthof hieß. Sie stritten. Es ging um Namen und Formalitäten, um die Vergangenheit. Wenn unser Kulturhaus eine Gegenwart haben soll, schrien Matthäs' Buchstaben von der Fassade, dann muss man sie endlich anpacken! Und sei es im Alleingang, mit Hilfe eines Nachbarn und der Leiter! So steht's zwar nicht im Kommunalgesetz. Doch dem Gesetz der Natur zufolge kommt erst dann mehr Bewegung in eine Sache, wenn Kräfte wirken.
Matthäs war Technologe in der Agrargenossenschaft. Er hat die Abfallwirtschaft im Landkreis aufgebaut, bei der Bauaufsicht gearbeitet. Sein Kopf ist kahl wie viele Männerköpfe, die bald 70 werden. Er könnte in Pantoffeln in der Veranda sitzen, durchs Blattwerk der Topfpflanzen ins trübe Wetter blicken und mit seiner Frau drüber reden, was für Spaß sie einst in der Stadt alle miteinander hatten. Stattdessen ist er in Jeans, Hemd und Westover unterwegs: als FDP-Mitglied, als Stadtverordneter, für den Bau- und Umweltausschuss. Für den Jugendklub fühlt er sich auch verantwortlich. Im brandenburgischen Niemegk, das in den dünn besiedelten eiszeitlichen Höhenzügen des Flämings ein stilles Dasein fristet, ist er so was wie ein Lebenszeichen. Die Leute haben seine Telefonnummer. Sie rufen an, um sich drüber zu beschweren, dass die Jugendlichen laut sind.
1964 hat die Stadt den Landgasthof „Deutsches Haus“ gekauft und zum Kulturhaus umgebaut. Kulturhäuser schuf man in den 60er Jahren überall in der DDR: als eine Art Industriezweig, der schreibende, musizierende, zeichnende, Theater spielende Arbeiter und Bauern produzieren sollte. Im Niemegker Kulturhaus gab's eine Gaststätte, Klubräume, eine Kegelbahn, Billardtische, einen Theatersaal. Zweimal im Monat lief Kino, dreimal reiste das Theater aus Wittenberg mit Revuen, Operetten und leichter Muse an. Schon im Januar waren die Karten fürs Jahr ausverkauft. Aus Lust, auch am Feierabend zusammen zu sein, nahmen die berufstätigen DDR-Bürger ihre Kulturhäuser in Beschlag. In Niemegk feierten sie Hochzeiten, Jugendweihen, den 1. Mai, den Tag der Republik, kamen zu Modenschauen, Tanz, zur Woche des Buches, des sowjetischen Films, zur Woche der Waffenbrüderschaft. Rentner zahlten keinen Eintritt, für Schichtarbeiter gab's Vormittagsprogramm. Nachts sang der Wirt Lieder, die Gäste stimmten ein. Der Kulturhausleiter, ein Elektroingenieur aus dem Nachbardorf, trat mit seinem Hund als Conférencier auf.
Und was geschah dann? Die Stadt sanierte Straßen, Gehwege, Kanalisation. Die Menschen bauten ihre Häuser um. LPGs lösten sich auf, Verwaltungen, Betriebe starben, Geschäfte, Infrastruktur. Arbeitskraft, die einzige Kraft, über die alle Niemegker ausreichend verfügten, war nichts mehr wert. Es gab kaum noch Feierabende. Die Jungen zogen weg. Die Älteren fragten: Was kostet der Eintritt? Was kostet ein Bier? Das Land Brandenburg bezahlte kein Theater mehr, weil Wittenberg nun in Sachsen-Anhalt lag. Dafür galten bundesweite Standards für Sicherheit und Brandschutz. Als Mitte der 90er Jahre die Betriebserlaubnis ablief, stand das Kulturhaus sowieso schon fernab der Realität. „Die Gemeinsamkeit ist den Bach runtergegangen“, sagen die Niemegker über die letzten 20 Jahre. Zumindest die Angewohnheit, diesen Satz zu gebrauchen, haben sie mit vielen anderen ehemaligen DDR-Bürgern gemeinsam.
Dass Michael Hardt heute im Kulturhaus sitzt und auf seine Mitmenschen wartet, hat er dem weißen Rauschebart zu verdanken, der sich vom linken Ohr zum rechten über sein Gesicht spannt. „Und was ist mit dir, Micha?“, wurde er vor fünf Jahren gefragt. Der Landwirtschafts- und Traktorenschlosser, der in den 60ern freiwillig zehn Jahre Soldat war, an Flugzeugen geschraubt und in der Altmark nach Erdöl gebohrt hat, der 30 Jahre Lkw fuhr, arbeitslos war, für die Linken im Stadtparlament sitzt, antwortete nicht. Er scheut keine Herausforderungen, aber er glaubt auch nicht an Wunder. Die da fragten, nannte er insgeheim „Außerirdische“. Er brabbelte in seinen Bart. Schwupp war er im Vereinsvorstand.
Die Außerirdischen waren vier Theatermacher. Sie kamen aus Berlin, Süddeutschland und Hamburg. Sie brachten ein Konzept. Es handelte von Festen, Musik, Veranstaltungen, Kino, Theater, von Geldquellen, Unterstützern. Ein Verein sollte sich gründen. „Unser 'Neues Volkstheater' will Fernsehgucker und Katalogshopper gewinnen, Lust auf Austausch zwischen den Menschen machen, ist ein Stück Lebenswelt des „neuen Volkes'“, stand geschrieben. „Macht mal“, soll einer der Stadtverordneten gesagt haben. Das war Anfang 2004.
Hartwig Matthäs hatte damals auch schon eine Idee, die er im Alleingang verwirklichte. Er rief beim Fernsehen an und sagte: „Wir richten unser Kulturhaus wieder her.“ Die Kameras lockten Leute an, die er Jahre nicht gesehen hatte. Sie brachten Werkzeuge mit, bauten den Theatersaal um. Ein Gerüst wurde gespendet, ein Bühnenvorhang, Fußbodenbelag. Ein Gastwirt verteilte kostenlos Mittagessen, es wurden Kaffee, Pfannkuchen, Geldspenden gebracht. Aus dem mehrtägigen Einsatz wurde eine Fernsehsendung. „Einige haben sich beim Arbeiten auffällig oft in Kameranähe aufgehalten“, sagt Matthäs. Er hat seine Mitmenschen ausgetrickst.
Die Stadt hat auch getrickst. Sie behielt sich vor, die Gaststätte im Kulturhaus zu verpachten. Erbärmliche Wirtsleute gaben sich die Klinke in die Hand, Bratfettdunst zog in den Theatersaal. Nicht einmal die Abgeordneten Hardt und Matthäs konnten ein Papier auftreiben, das dem Theaterverein erlaubte, sich wie der Herr in dem Haus zu benehmen, das er den Niemegkern quasi zurückeroberte. Obwohl die Stadt nichts mehr mit dem Kulturhaus anfangen konnte, hat sie es nie aus der Hand gegeben. An der Großstraße 19 hatte man Ideen, im Rathaus Bedenken. 2008 lief der Pachtvertrag für die Gaststätte aus, da waren drei Außerirdische längst wieder verschwunden.
Michael Hardt war in seinem Leben kaum im Theater. Er ist Musikfreund. Jetzt redet er über Inszenierungen und Probenarbeit. Sie sind 20 Leute im Theaterverein, sieben im Vorstand: fünf Niemegker, ein Unternehmer, der aus dem Westen in den Fläming kam, sowie die 37-jährige Tanz- und Theaterpädagogin Julia Strehler, die letzte Außerirdische. Zu Veranstaltungen im Kulturhaus bringt Hardt Gläser mit und Teigtaschen, die seine Frau gebacken hat. Er kümmert sich um Bühnenausstattung, Dekoration. Zahlt Eintritt, „damit überhaupt was in die Kasse kommt“. Dass sie sich über Stücke und Veranstaltungen des „Neuen Volkstheaters“ nicht immer einig sein würden, war ihm stets klar. Damit, dass das „neue Volk“ - ob Klezmer oder Heinz-Rühmann-Abend - sowieso nicht kommt, rechnete keiner. Manchmal ist der Vorstand mit Musikern, Kleinkünstlern, Kabarettisten, die er engagiert hat, fast allein.
„Es funktioniert nicht mehr“, sagt Siegfried Dalitz, der in alten Zeiten Bürgermeister war. Er wurde vor über 80 Jahren in der Stadt geboren, Das Leben war bunt und spielte sich auf der Straße ab. 20 Jahre nach dem Krieg hat Dalitz Silvester mit dem Sektkorken die gläserne Kugellampe im Kulturhaus abgeschossen. Alle haben gejubelt, obwohl das Kulturhaus doch so was wie ihrer aller Wohnzimmer war. In der DDR kostete die Welt nichts. „Wir haben unsere Häuser nicht abgeschlossen, weil jeder jeden kannte und jedem vertraute“, sagt Dalitz. Die Wende war der dritte Zeitenwechsel für Niemegk, den er erlebt hat. „Man muss sich zu allen Zeiten was Neues einfallen lassen“, sagt er. „Im Gasthof 'Zum Löwen' hat die Forelle neulich 6,66 gekostet. Da sind die Leute gekommen!“
Fünf Theaterstücke von Julia Strehler hatten in Niemegk bereits Premiere. Sie schreibt, inszeniert, leitet die Proben mit Laiendarstellern, spielt selbst. Die Produktionen des Neuen Volkstheaters ziehen Interessierte aus dem ganzen Fläming an: Städter, die auf dem Land leben, Künstler, Selbstständige, Biobauern, Ökofreaks. Zweieinhalb Jahre hat Strehler für das letzte Stück geprobt, an fünf Abenden kamen 500 Zuschauer, aber kaum Niemegker.
Vor fünf Jahren, nach dem Arbeitseinsatz, hat sie ihnen Teile ihrer ersten Inszenierung gezeigt. Sie saßen angenehm erschöpft in Arbeitsklamotten im Theatersaal. Da sagte ein Mann: „Ich bin Handwerker, du hältst mich wohl sowieso für blöd. Ich habe nichts verstanden.“ Strehler fragte: „Was haben Sie gesehen?“ Er lieferte bereitwillig ein paar Sätze. Sie freute sich, da er durchaus verstanden hatte. Er sagte: „Aber das war Kunst-Scheiß.“
Nachdem sie ihn noch mal hergerichtet hatten, haben die meisten Niemegker ihren Theatersaal für immer verlassen. Wenn Julia Strehler nach der Probe das Licht gelöscht, abgeschlossen hat und über den Kulturhaushof geht, hallen ihre Schritte irgendwie unheimlich. Sie fragt sich: Habe ich ihnen ihr Kulturhaus weggenommen?
Nach den Vorstellungen setzen sich die Schauspieler auf den Bühnenrand und bitten das Publikum, zu bleiben. Oft kommen gute Gespräche zustande. „Ich versuche permanent eine Annäherung an die Stadt“, sagt Julia Strehler. Aber sie sieht auch Leute im Saal, die sich eher verunsichert als eingeladen fühlen, die gucken, als wäre eine Waffe auf sie gerichtet. Sie kann ein Kulturhaus nicht erzwingen.
„Ja, das ist traurig“, sagt Eckhard Zorn, der kleine Mann mit den roten Winterwangen und dem dicken Wollpullover, der seit Jahrzehnten der Tierarzt von Niemegk ist und seit einigen Jahren der Bürgermeister. Er kennt die Leute, weiß, warum sie nicht mehr aus den Häusern kommen. Er zeigt auf seinen großen Fernseher. Als im Herbst an der Hofmauer des Kulturhauses ein Gemälde eingeweiht wurde, hat er die Rede gehalten. Hat dran erinnert, was das Haus mal war, gesagt, dass man es, obwohl die Stadt pleite ist, erhalten muss. „Er hat kein Wort darüber verloren, was wir hier seit fünf Jahren tun“, sagt Julia Strehler.
Eckhard Zorn hat an jenem Herbsttag aber doch was fürs Kulturhaus getan: Er hat das Wort „pleite“ ausgesprochen und dabei Ulrich Pietrucha angesehen, der unter den Zuhörern stand. Es war nur ein Augenaufschlag, keine Bewegung, quasi Niemegker Art. „War das ernst gemeint?“, hat der vom Blick Getroffene ihn gefragt.
Pietrucha ist ein erfolgreicher Unternehmer. Er kam aus dem Westen in den Fläming, renaturalisiert das Brachland um die Tongruben östlich der Stadt. Er kauft Baumüll, schüttet Hügel auf, über die sich Wiesen und Wanderwege ziehen, lässt Seen entstehen, hält Pferde, Ziegen, plant Ferienhäuser. Die Niemegker haben ihn bekämpft. „Müll aus Berlin wollen wir nicht!“, stand auf Plakaten. Sie schickten die Kripo, die in den Mülllieferungen nach Fremdstoffen suchte. Im Sommer lud Pietrucha die Leute ein. Sie tanzten auf seinen Wiesen, angelten Forellen, die er im See ausgesetzt hatte. Nach dem Fest der Gemeinsamkeit kämpfte keiner mehr. „Neues muss sich bewähren“, fassen die Leute ihre Erfahrungen zusammen. „Wer soll das Kulturhaus sonst kaufen“, antwortete ihm der Bürgermeister nach der Rede im Hof.
Pietrucha pachtet für 90 Jahre. Sein Sohn Christian, der Unternehmer, der im Theaterverein ist, unterzeichnet den Vertrag. Sie renovieren, sind Hausherren, damit der Verein seine Arbeit machen kann. Sie werden keinen Gewinn erzielen. Sie wollen Leute gewinnen, so wie auf den Wiesen an den Tongruben. Den Satz, mit dem Ulrich Pietrucha das erklärt, würden die Niemegker vielleicht wieder „Kunst-Scheiß“ nennen: „Das ist meine Unternehmensphilosophie.“ Bürgermeister Zorn freut sich immer noch weniger über Inhalte als über Formalien. „Zum Glück ist das Haus nur verpachtet“, sagt er. Und sei es für 90 Jahre. Aber gehören tut es der Stadt.
Nadja Klinger