Dieses hier ist nicht die erste derart große Post, die in sein Haus kommt. Sie zu öffnen, ist wie immer ein besonderer Moment. Allein die edle Verpackung! Er schnuppert dran. Dann reißt er auf, greift zu, zieht hervor, die Fingerkuppen ertasten einzigartiges Gewebe, befühlen die ausgeklügelten Nähte: ja, perfekt, kaum spürbar. Er faltet auf. Streicht mit der flachen Hand über hauchdünnes, zugleich stabiles Material, bedeckt damit sein Gesicht, atmet durch den Stoff ein und aus, dabei schließt er die Augen. Dann holt er die Schere und schneidet den perfekten Leibchen der berühmten Sportartikelfirma, die ihn regelmäßig mit vollendeter Berufsbekleidung ausstattet, die Ärmel ab.
Vielleicht ereignet sich der Vorfall aber auch woanders. Unten, in der Atemluft einer fensterlosen Kabine, in der Tiefe des Fußballstadions, wo sich ein paar erschöpfend durchtrainierte und medizinisch präparierte Männer gerade etwas aufbürden: Konzentration, Einstellung, Disziplin, eine Aufgabe, ein Trikot. Stille schiebt sich zwischen Worte. Blicke klammern sich an Gegenstände. Finger graben sich durch Frisuren. Ein Witz wird weitergereicht, eine Bemerkung verschwindet. Die Minuten gerinnen. Da öffnet plötzlich jemand die Tür. Sofort scharren die Füße. Ein Schritt, viele Schritte. Bewegung! Nach oben, auf den Rasen, es geht los. Doch da sitzt noch einer vor seinem Spind und schnippelt. Ist ziemlich spät dran. Die Schere strauchelt, rutscht ab, muss neu angesetzt werden, beißt sich fest und beißt sich durch.
Nach dem Fußballspiel wird Manuel Neuer gefragt, wie ihm heute im Tor seine Arbeit schon wieder so gut gelingen konnte. Nun. Was gibt es dazu zu sagen? Die Natur hat den perfekten Körper geschaffen, die Sportwissenschaft perfekte Trainer, die Medizin mischt sich perfekt ein, die Industrie kreiert perfektes Material. Neuer, dem man auf dem perfekt hochaufgelösten Fernsehbild ansieht, dass er sich perfekt verausgabte, hat sich bereits seines Trikots mit der Nummer 1 entledigt und steht im ramponierten Leibchen vor der Kamera. Über den prallen Oberarmen, wo die Experten von adidas nach reiflichem Überlegen einen Ärmel vorgesehen, ihn sodann mit größtem Sachverstand befestigt haben, ist der Stoff voller Einschnitte und Ecken. Anstelle des Ärmels franst das Leibchen aus.
„Wie kürzt man Trikots, ohne dass man das erkennt?“ Diese Frage kommt im Internet auf, bei torwart.de – Alles für die Nummer 1, wo sich Manuel Neuers Berufskollegen miteinander austauschen. Der Mann, der sie stellt, nennt sich keeper don (Internationale Klasse), macht vermutlich alles immer so, wie man es ihm gesagt hat, und fragt nach, wenn man ihm mal nicht gesagt hat, wie er’s machen soll. Keine schlechte Vorgehensweise. Aber auch keine gute. „Bei dem Aachener Thorsten Stuckmann kann man erkennen, dass sein Trikot von einem langen auf ein kurzes gekürzt wurde“, mault keeper don. „Noch besser erkennen kann man das bei Sören Pirson von Rot Weiß Oberhausen.“ Das Gespräch, das sich im Folgenden entwickelt, dreht sich nicht um den Fußball – und wiederum doch. „Am einfachsten ist es wohl, wenn du die Ärmel einfach abschneidest und den Saum umnähst beziehungsweise umnähen lässt ... „, schreibt Gonzo (Torwarttalent). Scheinbar kommt praktisches Alltagswissen zu Sprache, in Wahrheit jedoch geht’s ums Bewährte. Ums Übliche. Darum, nicht auffällig zu werden, also nur Durchschnitt zu sein. So fügt Gonzo (Torwarttalent) seinem Ratschlag noch ein Versprechen hinzu: „... dann sollte es wie original aussehen.“
Erfolgversprechendes ist gefragt. Und heikel. Alles Zubehör, das man zum Erfolg haben kann, bringt der Postbote einem heutzutage als Paket an die Tür. Bekommt man etwas nicht hin, kann man es kaufen. Hat man mal keine gute Idee, gibt es immer schon das, was andere sich ausgedacht haben. Sieht man nicht durch, wird es einem erklärt. Macht man schlapp, findet man Aushilfe. Erfolg ist ein Erzeugnis. Ein Komplott vieler Teilhaber. Im Grunde durchsichtig. Daher für den Einzelnen schwer in die Hand zu bekommen. Man könnte sich fragen, warum Manuel Neuer nicht in Herzogenaurach anruft und seinen exklusiven Ausstatter darum bittet, ihm am Leibchen keine Ärmel anzubauen: weil die ihn bei der Arbeit stören oder weil er Ärmel nicht schick findet oder einfach weil nur Loser Ärmel haben. Man könnte vermuten, dass statt des Schalke-Teddybären, den er als kleiner Junge zum Glückbringen in sein Tor setzte, jetzt eben der bizarre Scherenschnitt sein Talisman ist. Man könnte sich aber auch verweigern: den Fragen und Vermutungen, den Regeln, den Antworten, den gängigen Methoden.
Aus der Welt der erfolgreichen Mineralien wissen wir, dass der Wert im Verborgenen liegt. Der Diamant, das härteste Stück Natur, das es gibt, war einst ein Werkzeug. Erst als man ihm in der Neuzeit einen Schliff verpassen konnte, der ihn glänzen ließ und die dem Stein innewohnenden Effekte optisch verstärkte, wurde er zum wertvollen Schmuckstück. Die Schönheit des Diamanten ist zweifelsfrei, denn sein Erfolg fällt einem sofort ins Auge. In Wahrheit jedoch kommt dieser Erfolg nicht aus dem vordergründig Perfekten, sondern aus dem Hintergrund. Anders gesagt: In sich drinnen hat das Mineral seine Eigenschaften – Reinheit, Verfärbungen, Einschlüsse. Erst wenn sie hervorstechen, erst mit dem letzten Schliff ist der Edelstein fertig.
Etliche Jahre geht das nun schon, dass wir nach einem abgepfiffenen Fußballspiel googeln. Wir geben ein: „Manuel Neuer + abgeschnittene Ärmel“. Sodann erfahren wir, dass er noch nicht mal fünf war, als er bei Schalke mit dem Training begann. Dass er heulte, wenn ihm ein Ball durchging. Dass er jetzt von seinen Leuten „Schnapper“ genannt wird. Wir erfahren, wo der Mann heute wohnt und wo er ein Haus baut, wen er liebt, wo er feiert, stolpert, wieder aufsteht, wem er zuwinkt und ob ihm das Bier schmeckt; dass er an freien Tagen lange im Bad braucht, die Haare nur kurz haben mag, und – (!!!) – Wert auf sein Äußeres legt. Jedoch findet sich nichts zu den Ärmeln seines Leibchens. Dafür aber heißt es: dass „die Welt noch mehr über den Menschen unter dem Trikot wissen will“.
- Luke (Welttorhüter): Einfach in die Schneiderei bringen, die machen das super easy und sieht klasse aus.
- keeper don (Internationale Klasse): Was würde das zirka in einer Schneiderei kosten?
- Skaggerak (Amateurtorwart): Kostet hier bei uns so fünf bis zehn Euro.
- keeper don (Internationale Klasse): Mit Material nur fünf bis zehn Euro?! Das ist aber sehr günstig.
- KAHN16-0 (Amateurtorwart): So teuer sollte das ja auch nicht sein ... die verbrauchen im Prinzip ja nichts außer die Naht ... sie entfernen in dem Sinne nur was ... KAHN IST UND BLEIBT DER BESTE TORHÜTER DER WELT
- keeper don (Internationale Klasse): Ja, aber fünf bis zehn Euro! Ich nenne jetzt mal ein Beispiel, wie bei meinem Fahrradhändler, der nimmt schon mehr als zehn bis 20 die Stunde. Und der Schneider nur fünf bis zehn.
- Paulianer (torwart.de-Team): Wie kommst du darauf, dass es sich dabei um Stundensätze handelt? Zehn Euro pro Stunde, wo soll es so was geben?
- keeper don (Internationale Klasse): Jeder wird nach Stunden bezahlt, auch ein Schneider.
- Kenji 101 (Internationale Klasse): Es kann natürlich auch teurer werden, vielleicht auch günstiger, aber das hängt von der Region und der Schneiderei ab. Bevor du also weitere Fragen stellst, auf die dir sowieso keiner eine genaue Antwort geben kann, suche lieber selbst eine Schneiderei auf. Ist natürlich Sonntag etwas blöd, aber morgen wäre doch dafür ein ausgezeichneter Tag, oder?
- Paulianer (torwart.de-Team): Bei zehn Euro handelt es sich natürlich nicht um einen Stundensatz, das ist viel zu wenig. Für das Kürzen eines Trikots habe ich hier zwölf Euro bezahlt. Die Dauer lag bei etwa fünf Minuten.
- keeper don (Internationale Klasse): Hasst ja recht, Kenji 101, ich mache mir sinnlose Gedanken.
Ding dong! Das muss die Erkenntnis sein. Sozusagen die Moral von der Geschichte. Abpfiff, Manuel Neuer legt das Trikot mit der Nummer 1 ab, das Glanzstück seiner perfekten Ausstattung, „die Welt“ kann „den Menschen darunter“ sehen: einen Typen, den man gemeinhin einen gemachten Mann nennt, der in Wahrheit aber selbstgemacht ist. Der in diesem Augenblick mit der Eigenkonstruktion eines Leibchens vor die Kamera tritt. Der besser als jeder andere weiß: wie er bei der Arbeit seine Arme gut bewegen kann; ob seine Schere äußerst unangebracht oder äußerst hilfreich ist; was ihm Glück bringt. Der eine eigene Idee hat, nicht fragt, sondern einfach schneidet. Und damit das Erzeugnis Erfolg, den Komplott der Teilhaber zerstört. Man hält ihm das Mikrofon hin, er soll Fragen beantworten. Die Frage danach, was er da eigentlich mit seinen Leibchen anstellt, stellt im niemand. Weil es so offensichtlich ist? Seine Schere verpasst ihm den letzten Schliff.
- Schnapper 82 (torwart.de-Team): Abschneiden und fertig. Wieso solchen Aufwand betreiben?
- Sina (Welttorhüter): Das Umnähen soll ja verhindern, dass das Trikot in der Waschmaschine Fäden zieht.
- Paulianer (torwart.de-Team): Diese Erfahrung habe ich bei Sportklamotten noch nicht gemacht.
- Sina (Welttorhüter): Ich habe die Erfahrung bei Sportklamotten auch noch nicht gemacht, hängt aber damit zusammen, dass ich die noch nicht gekürzt habe.
Nadja Klinger